Aus den Studienbereichen

Im Gespräch: Leitlinien in der Ergo- und Physiotherapie

Florence Kranz ist Professorin an der DIPLOMA Hochschule und unterrichtet dort schwerpunktmäßig in den Studiengängen Ergotherapie, Medizinalfachberufe und Gesundheitsmanagement. In der Lehrveranstaltung „Ergotherapeutische Leitlinien“ regt sie Bachelor-Studierende dazu an, die Inhalte von Leitlinien auf konkrete Fallbeispiele zu beziehen und in ihrem jeweiligen beruflichen Kontext nutzbar zu machen. Als Autorin hat sie zudem zahlreiche Fachbeiträge und mehrere Studienmaterialien verfasst.

Hier erklärt sie, wie Ergo- und Physiotherapeutinnen und -therapeuten von interdisziplinären und professionsspezifischen Leitlinien profitieren können.

Was macht evidenzbasierte Leitlinien aus?

Evidenzbasierte Leitlinien, zu denen im deutschsprachigen Raum die S2e- und S3-Leitlinien zählen, basieren auf der systematischen Recherche und Bewertung von Forschungserkenntnissen. Aus dieser Evidenz werden Empfehlungen abgeleitet, die uns eine hervorragende Orientierungshilfe bieten, um unser Vorgehen im therapeutischen Prozess zu entwickeln und auf den Einzelfall abzustimmen. Sie bieten uns nicht nur Handlungssicherheit, sondern inspirieren uns auch dazu, aktuelle Entwicklungen zu verfolgen und uns kontinuierlich weiterzuentwickeln sowie fortzubilden. Somit können uns Leitli-nien dabei helfen, das eigene therapeutische Repertoire auf der Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse sinnvoll zu erweitern.

Worin besteht der Unterschied zwischen interdisziplinären und professionsspezifischen Leitlinien? 

In Deutschland stehen uns vor allem interdisziplinär entwickelte Leitlinien zur Verfügung. Diese Leitli-nien richten sich an verschiedene Berufsgruppen und Bereiche im Gesundheitswesen und können z.B. über das Leitlinienregister der AWMF recherchiert werden. 

Professionsspezifische Leitlinien hingegen sind auf die Bedürfnisse und Anforderungen einzelner Be-rufsgruppen zugeschnitten. Hierzu zählen etwa die evidenzbasierten Leitlinien des amerikanischen Ergotherapie-Verbandes AOTA, die speziell für die Ergotherapie entwickelt worden sind. 


„Leitlinien sind keine Patentrezepte"

Inwieweit können Leitlinien Ergo- und Physiotherapeutinnen und -therapeuten in der Entschei-dungsfindung und Therapieplanung unterstützen?

Insbesondere evidenzbasierte Leitlinien bieten uns eine wertvolle Orientierungshilfe, da in ihrem Rahmen die vorhandene Evidenz systematisch recherchiert, ausgewertet und aufbereitet wird. Ihnen können wir entnehmen, welche Interventionen sich unter welchen Bedingungen eignen und welcher Empfehlungsgrad damit verbunden ist.

Allerdings sind Leitlinien keine Patentrezepte. Wenn wir klientenzentriert und evidenzbasiert arbeiten wollen, geht es immer auch darum, die bestmögliche Lösung für die jeweilige Person oder Personengruppe zu finden. Dabei gilt es, die externe Evidenz aus den Leitlinien mit den Sichtweisen und Bedürfnissen der Klientinnen und Klienten sowie der eigenen Expertise zu verknüpfen.

Wie können sich Leitlinien auf die Qualität der Patientenversorgung auswirken?

Indem wir uns an Leitlinien orientieren und zum Beispiel aufzeigen, welche Interventionen wirksam sind und welche Evidenz bzw. Empfehlung es dafür gibt, können wir effektiver arbeiten und dies auch gegenüber unseren Klientinnen und Klienten sowie anderen Akteuren im Gesundheitswesen transpa-rent machen. Einige Leitlinien beinhalten zudem Empfehlungen zur Gestaltung der Diagnostik oder zum Einsatz bestimmter Assessments. Ein Beispiel hierfür ist etwa die „Deutsch-österreichisch-schweizerische (DACH) Versorgungsleitlinie zu Definition, Diagnostik, Behandlung und psychosozialen Aspekten bei Umschriebenen Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen (UEMF)“. 

Leitlinien bieten zudem eine wertvolle Informationsgrundlage, um gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten abzustimmen, wie wir im konkreten Einzelfall vorgehen wollen. Diese sogenannte partizipative Entscheidungsfindung wird übrigens selbst in verschiedenen Leitlinien empfohlen. 


„Sich gegenseitig zum Wohl der Klientinnen und Klienten ergänzen."

Inwieweit können sich Leitlinien auf das interdisziplinäre Arbeiten mit anderen Gesundheitsberufen auswirken? 

Sie können sie erheblich unterstützen, was natürlich auch die Kooperation von Ergo- und Physiotherapeutinnen und Therapeuten betrifft. Sie bieten häufig eine gemeinsame Plattform an, auf der sich die verschiedenen Berufsgruppen positionieren und ihr professionelles Selbstverständnis sowie ihre spezifischen Angebote bzw. Ansätze darlegen können. Das hilft uns zu verstehen, welche Stärken, Kompetenzbereiche und Spezialisierungen die einzelnen Berufsgruppen mitbringen und wie wir uns gegenseitig zum Wohl unserer Klientinnen und Klienten ergänzen können.

Oftmals ist es auch ein explizites Ziel von Leitlinien, interdisziplinäre Zusammenarbeit zu unterstützen. Als Beispiel kann etwa die S3-Leitlinie „Psychosoziale Therapien bei schweren psychischen Erkrankungen“ dienen, welche der Vernetzung und Kooperation ein eigenes Kapitel widmet. Darüber hinaus enthalten viele Leitlinien Grundsätze für die (psychosoziale) Begleitung der jeweiligen Zielgruppe, die auf einer berufsübergreifenden Perspektive beruhen und somit eine gemeinsame Orientierungsbasis bieten. 


„Es braucht ausreichend zeitliche und personelle Ressourcen, um Leitlinien in die bestehenden Konzepte einzubinden."

Welche Herausforderungen bestehen bei der Implementierung von Leitlinien in den therapeutischen Arbeitsalltag?

Ein wichtiger erster Schritt ist das Bewusstsein dafür, dass Leitlinien eine wertvolle Ressource darstellen. Dann braucht es die Kompetenz, diese Leitlinien zu lesen, zu verstehen und in den Praxisalltag zu integrieren. Für Leitungskräfte stellt sich somit auch die Frage, wie sie die Inhalte von Leitlinien in ihre Teams transportieren und ihre Mitarbeitenden darin unterstützen können, diese in der Arbeit mit Klientinnen und Klienten umzusetzen. Dazu gehört auch, dass ausreichend zeitliche und personelle Ressourcen vorhanden sind, um Leitlinien in die bestehenden Konzepte einzubinden. 

Gleichzeitig muss man im Hinterkopf behalten, dass – wie schon erwähnt – Leitlinien keine Patentrezepte darstellen. Vielmehr gilt es zu überlegen, wie die Evidenzen und Empfehlungen vor dem Hintergrund der jeweiligen Personen oder Personengruppe genutzt werden können. Idealerweise gibt es hierzu Fallbesprechungen im Team, in denen sich die Kolleginnen und Kollegen miteinander austauschen, voneinander lernen und gegenseitig unterstützen können.

Gibt es Bedarf an der Weiterentwicklung von therapeutischen Leitlinien?

Ja, definitiv. Natürlich wäre es toll, wenn wir auch in Deutschland professionsspezifische Leitlinien entwickeln würden. Glücklicherweise liegen die erwähnten Ergotherapeutischen Leitlinien der AOTA in deutscher Übersetzung vor. Allerdings sind einige dieser Leitlinien im Original bereits aktualisiert worden. Dieses Problem, dass deutsche Übersetzungen oft sehr zeitversetzt erscheinen, kennen wir auch aus anderen Bereichen. Wünschenswert wäre außerdem, dass die Übertragbarkeit der amerikanischen Leitlinien auf den deutschsprachigen Raum genauer überprüft und kommentiert würde. 

So werden in den Ergotherapeutischen Leitlinien der AOTA zum Beispiel immer wieder Assessments, Interventionen oder Manuale aufgeführt, die hierzulande nicht bekannt bzw. üblich sind. Das kann aber natürlich auch einen Anstoß bieten, sich intensiver damit zu beschäftigen und diese Innovationen Ergotherapeutinnen und -therapeuten im deutschsprachigen Raum zugänglich zu machen. Zudem besteht in vielen Bereichen ein Bedarf an mehr und hochwertigerer Forschung, die als Basis für die (Weiter-)Entwicklung der interdisziplinären und professionsspezifischen Leitlinien dienen kann.

Welche Weiterentwicklungen und zukünftigen Trends sind in Bezug auf Leitlinien sind zu erwarten?

Leitlinien sollten in der ergo- und physiotherapeutischen Lehre ein größeres Gewicht erhalten, auch bereits in der Berufsausbildung. So bietet es sich beispielsweise an, diese im Rahmen von Praktika oder Sichtstunden als wesentliche Orientierungsbasis für die Therapieplanung zu nutzen. Neben anderen Maßnahmen kann das dazu beitragen, die Umsetzung von Leitlinien in der Praxis stärker zu etablieren. Sehr zu begrüßen ist zudem der Trend, dass die Perspektiven und Expertisen von betroffenen Menschen stärker in die (Weiter-)Entwicklung von S2- und S3-Leitlinien einbezogen werden (sollen). Dies geht unter anderem aus dem AWMF-Regelwerk Leitlinien hervor – auch wenn die Umsetzung dieser Forderung sicherlich noch verbessert werden kann.

Das Interview führte Prof. Dr. Claudia Kemper, Gesundheitswissenschaftlerin und Physiotherapeutin.
 

Leitlinien sind in der Physio-und Ergotherapie von großer Bedeutung.

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